Basisdemokratie gegen (Neo-)Feudalismus: Zum 500. Jahrestag der Zwölf Artikel

Im März 1525 kampierten die aufständischen Bauern vor Memmingen. Das waren vor allem die drei großen Bauernhaufen: der Baltringer Haufen, der Allgäuer Haufen und der Seehaufen, aber auch über 20 kleinere Gruppierungen.

Aus ihrer Mitte heraus entsandten sie etwa 50 Delegierte, die sich in der Kramerzunft in Memmingen trafen. Mit wohlwollender Unterstützung der Stadt, die sie sogar mit Wein bewirtete, berieten sie sich wiederholt im Verlauf des Monats – im «Plenum», wie heute manche von uns sagen würden – und zwischendurch gingen sie immer wieder zu ihrem Lager zurück, um sich mit den Ihrigen abzusprechen. Das Resultat, das am 20. März dabei heraus kam, waren vor allem zwei Dokumente: Die «Zwölf Artikel» und die «Bundesordnung». Letzteres war eine Vereinbarung, wie sich die Haufen, die sich zu einem Bund zusammengeschlossen hatten, untereinander und nach außen verhalten sollten. Wäre der Aufstand siegreich gewesen, hätte die Bundesordnung eine Art Verfassung darstellen können, nach der sich die beteiligten Territorien auf konföderale, nicht-staatliche Weise hätten politisch strukturieren können. Leider nahm die Geschichte einen anderen Verlauf.

Der Hinweis auf einen konföderalen, basisdemokratischen Ansatz lädt jedoch dazu ein, den März 1525 neu zu betrachten. Der Prozess, der sich in diesen Tagen in Memmingen abspielte, wird oft als «Bauernparlament» bezeichnet. Die gängige Meinung ist, dass die Gespräche in der Kramerzunft die heutige parlamentarische Politik vorweggenommen haben. Allerdings zeigt sich hier ein Zwiespalt:

Einerseits werden die Bauern gelobt, weil sie sich demokratisch an einen Tisch gesetzt und erstmals Menschen- und Freiheitsrechte formuliert haben. Dies wird in eine direkte Linie zur heutigen Auffassung von freiheitlicher Demokratie gestellt. So auch von Bundespräsident Steinmeier, als er letzten Samstag hier in Memmingen gesprochen hat.

Andererseits wird ihr Aufstand von vornherein als sinnlos und vermessen dargestellt; sie seien quasi selber schuld gewesen, dass der Bauernkrieg für sie blutig endete. Erst die nachfolgende Kompromissbereitschaft der Obrigkeit habe langsam dazu geführt, dass das neue, nachfeudalistische Zeitalter eingeläutet wurde, das schließlich in unsere heutige Demokratie mündete.

Diese Sichtweise ist jedoch Geschichtsschreibung der Sieger, die sich natürlich als Gönner präsentieren. Wir als Kampagne 500 Jahre Widerstand behaupten, dass die Zustände, über die sich die Bauern 1525 beschwerten, heute keineswegs behoben sind. Unser Land wie es heute ist, ist viel mehr auf das Blut der Aufständischen gebaut, als auf ihre Werte. Mit denen wird sich aber natürlich geschmückt, wenn es gerade passt. Die Nachfahren von Georg von Waldburg-Zeil, dem sogenannten «Bauernjörg», der damals die Aufstände im Auftrag der Fürsten niederschlug, sind heute im Aufsichtsrat der Deutschen Bank und Eigentümer der Allgäuer Zeitung. Das ist die Realität. Außerdem sind heute mit etwa 10000 ha Land einer der größten privaten Grundbesitzer in Deutschland.

Die Bauern damals begehrten gegen Feudalismus auf, gegen Leibeigenschaft. Ein Lehensherr, der behauptete, ihm gehöre das Land, hat es «verliehen», damit die Bauern es bewirtschaften und ihm Abgaben zahlen und Frondienste leisten. Heute haben die meisten Menschen in Deutschland nicht einmal mehr Land, von dem sie leben könnten. Weshalb sie ihre Zeit verkaufen müssen, um essen zu können. Wir können heute von Neo-Feudalismus sprechen, in dem Sinne, dass wir eine extreme Konzentration von Reichtum und Macht erleben, personifiziert in Menschen wie Elon Musk und Jeff Bezos.

Und die noch vorhandene kleinbäuerliche Landwirtschaft gerät immer mehr unter Druck. Es gibt immer weniger Betriebe, die immer größer werden. Und es gibt immer noch Landraub, vor allem im Globalen Süden, wo heute das passiert, was unsere Gesellschaft vor 500 Jahren erlebt hat. Das Kleinbauerntum wird zerstört, das Land wird den Menschen weggenommen, wodurch sie lohnabhängig werden und in den Städten und später in den Fabriken arbeiten gehen müssen. Auch bei uns kaufen sogenannte branchenfremde Investoren immer mehr Agrarfläche auf.

Ein tieferes Demokratieverständnis

Das politische System – die liberale, parlamentarische Demokratie – weist immer mehr Brüche auf, wie wir aktuell gerade in Deutschland und anderen europäischen Ländern sehen. Die Macht der Banken und Konzerne ist jedoch ungebrochen. Mit pseudo-rebellischem Gebaren erlangen in Europa Parteien wie die AFD oder Rassemblement National Einfluss, die mitnichten Politik für den «kleinen Mann» machen, und schon gar nicht für die «kleine Frau. Sie sind Parteien der Eliten, als deren Widersacher sie sich präsentieren und machen Politik von Reichen für Reiche. Sie greifen die Errungenschaften der Arbeitnehmer an.

Wir als Kampagne 500 Jahre Widerstand sagen deshalb: Die Bauernversammlung in Memmingen war keine Vorläuferin für das heutige politische System, das von Lobby- und Profitinteressen angetrieben wird. Sie ist ein Beispiel für ein anderes, tieferes Demokratieverständnis. In heutiger Sprache würden wir es am ehesten «Basisdemokratie» nennen. Für die bäuerlichen Menschen damals, die 90 Prozent der Bevölkerung ausmachten, war es aber nichts anderes als einfach ihre gewohnte Lebensweise. In den Dörfern wurden Entscheidungen in Gemeindeversammlungen getroffen.

Auch über Recht oder Unrecht wurde lange Zeit vor Ort entschieden – nicht bürokratisch irgendwo von irgendwem, der die Situation der Menschen gar nicht kannte. Die Befugnis zur eigenen Rechtsprechung wurde den Menschen Stück für Stück weggenommen, unter anderem unter dem Vorwand des sogenannten Landfriedens, der die Rechtsprechung zentralisierte, bürokratisierte und aus ihrem Lebenskontext herausnahm.

Demokratisches Vorgehen, d.h. einfach sich untereinander abzusprechen, wie man das jetzt am besten gemeinsam macht, war ganz logisch der Weg, um das Land gemeinsam zu bearbeiten. Der Antrieb der Menschen damals war nicht Profit, sondern die Erfüllung ihrer Bedürfnisse. Deshalb setzten sie sich in den Zwölf Artikeln auch für den Erhalt der Allmenden, des Gemeinschaftslandes ein: Das Land soll denen gehören, die es bearbeiten, nicht denen, die daraus Profit ziehen.

Thomas Müntzer, der die Aufstände damals mitgeprägt hat, sagte:

Die Grundsuppe der Dieberei sind unsere Fürsten und Herren;
sie nehmen alle Creaturen zu ihrem Eigentum, die Fische im Wasser,
die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden muss alles ihres sein.
Aber den Armen sagen sie, Gott hat geboten du sollst nicht stehlen.

Noch heute können wir in der bayerischen Verfassung Überreste eines anderen Verhältnisses zum Land erkennen:

Artikel 161
(2) Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen.

und in Artikel 163
(2) Der in der land- und forstwirtschaftlichen Kultur stehende Grund und Boden aller Besitzgrößen dient der Gesamtheit des Volkes.

(4) Bauernland soll seiner Zweckbestimmung nicht entfremdet werden. Der Erwerb von land- und forstwirtschaftlich genutztem Boden soll von einem Nachweis der Eignung für sachgemäße Bewirtschaftung abhängig gemacht werden; er darf nicht lediglich der Kapitalanlage dienen.

Es ist heute oft schwierig, sich vorzustellen, dass die Welt ganz anders sein könnte. Dass wir in einer Welt leben könnten, die nicht von Kapitalinteressen, konkurrierenden Nationalstaaten und autoritären Machtmenschen beherrscht wird. 1525 war ein Wendepunkt in der Geschichte: Wenn sie anders verlaufen wäre und die Bauern nicht besiegt worden wären, hätte sich vielleicht ein andere politische Ordnung durchgesetzt.

Vielleicht hätten wir heute eine demokratischere und konföderalere Struktur in den Regionen der Aufstände so, wie es die «Bundesordnung» von Memmingen vorsah. Deshalb stehen wir heute hier für ein Erinnern an den Bauernkrieg, das nicht im Dienste der herrschenden Ordnung steht, sondern für ein Erinnern, in dem sich unser Wunsch nach echter Demokratie und Selbstbestimmung mit dem unserer kämpfenden Vorfahren verbindet.

Und mit ihrer Beziehung zum Land. Indigene Bewegungen umschreiben dieses Verhältnis in etwa folgendermaßen: Das Land gehört uns nicht, wir gehören zum Land. Wir tragen Verantwortung für das Land, denn es nährt uns gut, wenn wir es gut behandeln.

In Gedenken an Thomas Müntzer in Mühlhausen, Margarete Renner in Heilbronn und Sebastian Lotzer in Memmingen, sowie die vielen, vielen anderen, die damals aufgestanden sind.

500 Jahre Widerstand, für das Leben, für das Land!

(Dieser Text basiert auf einer Rede der Kampagne 500 Jahre Widerstand, die am 20. März 2025 vor der Kramerzunft in Memmingen gehalten wurde.)